Herr K. hatte in seinem Leben immer wieder psychische Probleme. Diese verstärkten sich massiv während der Corona-Pandemie. Sein Arzt verschrieb ihm ein Medikament gegen Angststörungen. In der Hoffnung auf eine noch bessere Wirkung nahm Herr K. mehr von dem Medikament ein als verordnet. Die Überdosis führte jedoch zu Wahnvorstellungen – Herr K. erkannte die Menschen in seinem Umfeld nicht mehr und fühlte sich bedroht. Er nahm sich ein
langes Messer aus der Küchenschublade und drohte „alle umzubringen“. Dann machte er Anstalten, aus dem Fenster seiner Wohnung
zu springen. Aus dem 4. Stock. Seine Lebensgefährtin erzählte der Polizei später, Herr K. sei eigentlich ein friedfertiger und freundlicher Mensch. „So haben wir ihn noch nie gesehen“, hieß es auch von den Nachbarn.
Die Pandemielage schlägt sich auf die Psyche vieler Menschen nieder. Die Reduzierung der sozialen Kontakte und der erschwerte Zugang zu
Hilfsangeboten können Lebenskrisen mitverursachen oder vorhandene psychosoziale Probleme verstärken. Der oben geschilderte Sachverhalt ging glimpflich aus. Den herbeigerufenen Polizeibeamten – darunter
einer der beiden Autoren dieses Textes – gelang es, Herrn K. zu überreden, das Messer abzulegen und sich in ärztliche Obhut zu begeben.
Die pandemiebedingten
Belastungen und Stressfaktoren sind teils wirtschaftlicher Art – wenn etwa das finanzielle Einkommen betroffen ist – und teils psychischer, wie die eingeschränkten sozialen Kontakte zu Personen außerhalb des eigenen Haushalts oder das „Aufeinanderhocken“ mit den Personen und Familienmitgliedern im eigenen Haushalt. Insbesondere letzteres lässt befürchten, dass es in den Lockdown-Phasen vermehrt zu Fällen häuslicher Gewalt gekommen ist und weiterhin kommt. Verlässlich einschätzen lässt sich die Entwicklung allerdings kaum. Die Aussagekraft der Kriminalstatistiken ist in verschiedener Hinsicht eingeschränkt. Vor allem können sie nur erfassen, was den Strafverfolgungsbehörden bekannt wird. Beim Phänomen der häuslichen Gewalt wird von einem großen Dunkelfeld ausgegangen. Es gibt viele Beziehungen mit einem gewalttätigen Partner, der nie polizeibekannt wird. Und bei vielen polizeibekannten Tätern ist davon auszugehen, dass die bekannt gewordenen Taten nur die Spitze des
Eisbergs darstellen. Ein Bekanntwerden der Taten ist allerdings erforderlich, damit Behörden und zivile Stellen eingreifen und die Opfer unterstützen können. Daher wurden Kampagnen ins Leben gerufen, die einer Kultur des Wegschauens entgegenwirken und Zeugen sowie Opfer zu einer Anzeige der Taten ermutigen wollen. Wenn nun in den Kriminalstatistiken ein Anstieg der Partnerschaftsgewalt zu verzeichnen ist, lässt sich nicht sagen, inwieweit es sich um eine (pandemiebedingte) Verschärfung des Problems Partnerschaftsgewalt handelt und inwieweit es eine Verbesserung des Anzeigeverhaltens und damit auch ein Erfolg der genannten Kampagnen zur Aufhellung des Dunkelfeldes ist. Zu Lockdown-Zeiten ist auch denkbar, dass Nachbarn häusliche Gewalt eher bemerken, weil sie vermehrt zu Hause sind, was ebenfalls zu mehr Anzeigen führen würde.
Verschiebungen vom Dunkel- ins Hellfeld lassen sich nur mit so genannter Dunkelfeldforschung erkennen. Dabei handelt es sich in der Regel um Bevölkerungsbefragungen
zu Opfererfahrungen und Zeugenbeobachtungen verbunden mit der Frage, ob man die erfahrenen bzw. beobachteten Delikte angezeigt hat. Verstärkte Dunkelfeldforschung ist gerade im Bereich der häuslichen Gewalt wünschenswert. Gleichwohl dürfen die Erwartungen hier nicht zu hoch
sein. Denn auch bei anonymen Befragungen wird ein Teil der Delikte verschwiegen. Man spricht insoweit vom „absoluten Dunkelfeld“.
Gleichzeitig gibt es Überlegungen, die Aussagekraft der Hellfelddaten zu erhöhen, indem zusätzliche relevante Merkmale statistisch erfasst werden. So wird bei
Gewaltdelikten bereits seit längerer Zeit diskutiert, die Tatschwere
auszuweisen. Dazu müssten praktikable Indikatoren festgelegt werden.
Denkbar wäre beispielsweise, zu erfassen, ob für das Opfer eine
ärztliche Behandlung oder sogar ein Krankenhausaufenthalt erforderlich war. Damit ließen sich Thesen zu Veränderungen der Intensität der Gewalt besser überprüfen.
Im Rahmen der begrüßenswerten aktuellen politischen Initiative, Gewalt gegen Frauen stärker zu bekämpfen, wird die Forderung erhoben, das Merkmal Frauenfeindlichkeit/Sexismus zu erheben – also ob gerade frauenfeindliche Einstellungen das Motiv für die Gewalt waren. Zur besseren Einschätzung dieser Problematik ist das sicherlich sinnvoll. Auch für täterorientierte Präventionsmaßnahmen ist das Motiv relevant, denn für Präventionsansätze dürfte es einen Unterschied machen, ob ein Täter aus Frauenfeindlichkeit heraus handelt oder zum Beispiel aufgrund einer psychischen Persönlichkeitsstörung oder aber einer stressbedingten Überforderungssituation in Kombination mit fehlender Konfliktkompetenz. Allerdings dürfte es schwierig sein, die zugrunde liegende
Tatmotivation verlässlich zu ermitteln und in den Statistiken präzise abzubilden.
Auch sollte bei der politischen Initiative nicht übersehen werden, dass Männer ebenso Opfer von häuslicher Gewalt werden können. Bei den offiziell registrierten Taten ist ungefähr jedes fünfte Opfer ein Mann. Bei männlichen Opfern könnte die Scham und damit die Hemmschwelle zur Anzeige noch größer sein, weshalb der Anteil männlicher Opfer im Dunkelfeld möglicherweise noch höher liegt. Die Konstellation mit einem männlichen Opfer hat einer der Autoren dieses Textes zu Corona-Zeiten in besonders schlimmer Weise beobachten
müssen:
Die Nachbarn haben angerufen. Beim Ehepaar H., 71 und 67 Jahre alt, „geht es hoch her“. Mitten in der Nacht. Es werden Türen geschlagen und
Frau H. schreit laut. Eine Streife macht sich auf den Weg – wie schon oft in den letzten Jahren. Doch dieses Mal bleibt es nicht bei Schrammen und Kratzern. Die Polizeibeamten klingeln an der Wohnungstür, Frau H. macht auf. Durch die geöffnete Tür sehen die Beamten, dass Herr H. in einer Blutlache liegt. Die sofortigen Wiederbelebungsmaßnahmen scheitern, Herr H. verstirbt an seinen Stichverletzungen. Frau H. sagt, sie habe sich nur wehren wollen mit dem Küchenmesser. Infolge der Corona-Krise seien ihr Mann und sie zunehmend vereinsamt, es habe noch mehr Streit als zuvor gegeben.
Zum Teil verfügen die Landespolizeien bereits über detaillierte Datenbanken zu Fällen häuslicher Gewalt. In einigen Bundesländern werden standardisierte Risikobewertungsinstrumente eingesetzt, um die Rückfallgefahr besser einschätzen und potenzielle Tötungsdelikte im Vorfeld erkennen zu können. Dabei wird das Vorliegen der fallbezogenen Risikofaktoren bei jedem Einsatz standardisiert erfasst. Möglicherweise wäre es für Präventionsstrategien ein nützlicher Ansatz, diese Daten systematisch, ggf. länderübergreifend, auszuwerten.
Ein Risikofaktor, der nicht nur für das gegenwärtige Geschehen relevant ist, sondern sich auch weit in der Zukunft auswirken kann,
ist das Vorhandensein von Kindern im Haushalt. Wachsen Kinder in einem gewaltbelasteten Haushalt auf, so gefährdet das zum einen deren psychosoziale Entwicklung, zum anderen lernen sie Gewalt als „normales“ Konfliktverhalten kennen. Beides erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind später selber zum Gewalttäter wird.
Mitunter werden sogar Kleinkinder zum
Opfer:
Herr L. saß mit
seiner Lebensgefährtin, Frau M. und deren Vater beim Abendessen zusammen. Mit einem Mal geriet Herr L. aus einem nichtigen Grund in Streit mit den anderen beiden. In seiner Wut schleuderte er einen vollen Teller heiße Suppe gegen die Esszimmerwand. Das gemeinsame Baby, das am Boden
auf einer Decke in direkter Nähe zum Tisch lag, wurde durch die Suppe leicht am Arm verbrüht. In dem nun folgenden Durcheinander nahm Herr M., der Großvater des Babys, das schreiende Kind auf den Arm, um es zu trösten. Herr L. stürmte in die Küche und holte von dort ein großes Fleischmesser. Er drohte, „alle abstechen“ zu wollen. Tatsächlich brachte er Herrn M. mit dem Messer eine schwere Gesichtsverletzung bei, während dieser noch das Baby im Arm hielt. Danach flüchtete Herr L. mit seinem Pkw. Wir konnten ihn schließlich nach einer präsidiumsübergreifenden Großfahndung stellen und festnehmen. Kurz vor dem Vorfall hatte Herr L. seinen Arbeitsplatz verloren.
Es besteht der subjektive Eindruck, dass die Pandemielage die Intensität häuslicher Gewalt verschärft hat. Corona gibt damit umso mehr Anlass die Datenlage weiterzuentwickeln und die Bekämpfung dieses für die Opfer hochbelastenden Kriminalitätsphänomens zu intensivieren.
Autoren:
Klaus Lidl, Polizeihauptkommissar
Einsatzleiter vor Ort bei dienststellenübergreifenden Lagen
beim Polizeipräsidium
Schwaben Nord in Augsburg
Henrik Kämmler
Referent für Kriminologie
in der Behörde für Justiz und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt Hamburg