Zu den Reaktionen auf Polizeieinsätze bei Querdenken-Demos
Am vergangenen Samstag war es mal wieder soweit: Aus dem gesamten Bundesgebiet kamen Tausende Menschen nach Leipzig, um dort im Rahmen der Querdenken-Demo gegen die behördlichen Corona-Auflagen zu demonstrieren. Wie schon in Berlin am 01. und am 29. August war es ein Mix aus Verschwörungstheoretikern, Esoteriker*innen, Rechtsextremen und, ja, auch „Normalos“.
Am Wochenende erlangte die Demo verglichen mit den Berliner Aufzügen wenig Aufmerksamkeit. Zum einen
gibt es in Leipzig keine Parlamentstreppen, auf denen minutenlang seelenruhig Reichskriegsflaggen geschwenkt werden können, zum anderen wurde
zeitgleich zur Leipziger Demo bekannt gegeben, dass Joe Biden im Januar 2021 US-Präsident wird. So reichte es im kurzen Beitrag der Tagesschau am Samstag nur für ein Bild von brennenden Barrikaden aus Connewitz. Zwei Tage später kann man in der Leipziger Volkszeitung nachlesen, was die Zuschauer*innen der Tagesschau möglicherweise auch interessiert hätte:
„15:50 Uhr: In der Goethestraße kommt es zu ersten Auseinandersetzungen zwischen Rechtsextremen und der
Polizei.“
„16 Uhr: Am Brühl kommt es zur Vereinigung mit anderen Neonazi-Gruppen. Auch hier gibt es Angriffe auf Polizisten, Pfefferspray wird eingesetzt. Eigentlich festgesetzte Rechtsextreme werden auf dem Brühl wieder freigelassen.“
„16:15 Uhr: Ein Dutzend Beamte stellt sich ihnen entgegen, versucht eine Kette zu bilden, um den weiteren Marsch zu verhindern. Die Rechtsextremen sind unbeeindruckt, laufen provozierend auf die Beamten zu.“
„16:19 Uhr: Vom Augustusplatz kommen immer mehr „Querdenker“ und unterstützen die rechtextremen Hooligans“
„16:29 Uhr: Neonazis patrouillieren inzwischen auch am Hauptbahnhof (...). Journalisten werden angegriffen, auch Passanten“
„16:57 Uhr: Die Stimmung
heizt sich immer mehr auf. Es fliegen Pyrotechnik und Flaschen auf Polizeibeamte“
„17:01 Uhr: Polizisten in Rückwärtsbewegung, Pfefferspray gegen Gewalttäter, die ihnen hinterherstürmen“
„17:35 Uhr: Die Polizei ist überfordert und wird vor dem Hauptbahnhof wieder überrannt. Die Blockaden werden aufgelöst (...) Die Lage ist außer Kontrolle“
„20 Uhr: Die „Querdenker“
feiern ihren Erfolg auf dem Augustusplatz. Es wird „Ein Tag, so wunderschön wie heute“ angestimmt.“1
(aus: LVZ v. 9. November 2020, Seiten 2-3)
Am Montag wurden die Scherben zusammengekehrt und der Leipziger Ring lädt Autofahrer wieder ein, innerstädtische Geschwindigkeitsgrenzen zu missachten. Inzwischen schlägt die Lage vom Samstag bundesweit Wellen. Der Leipziger OB nennt die Polizei „überfordert“ (LVZ 09.11.2020, Seite 3), der CDU-Fraktionschef im Leipziger Stadtrat nennt Kritik an der Polizei „unredlich“ (LVZ 09.11.2020, Seite 9).
Der Deutsche Journalisten Verband spricht in einem Tweet von „mehr als 30 attackierten Journalist*innen“(Tweet von @djvde am 08.11.2020), der Leipziger Polizeipräsident gibt zu, dass „nicht alles optimal verlaufen“ sei (LVZ 09.11.2020, Seite 3).
Der sächsische Innenminister Wöller beschreibt die Demonstration als „überwiegend friedlich“ und weist jegliches Versagen bei der Polizeiarbeit zurück. Der Bundesinnenminister gibt der Polizei sogar „volle Rückendeckung“ und gibt dem Souverän zu verstehen: „Wir müssen damit aufhören, die Taktik der Polizei im Nachhinein ohne Kenntnis von Details
und ohne vollständiges Bild per Ferndiagnose zu hinterfragen.“
Kritik an der Polizei
Um es gleich vorwegzunehmen: Polizeikritik
darf jeder üben. Polizeitaktik darf auch ohne Kenntnis aller Details
hinterfragt werden, zumal die Details ja nicht jedem zugänglich sind.
Wenn aber nach diskussionswürdigen Einsätzen „die Polizei“ kritisiert oder gelobt wird, verkennt dies die Grundzüge einer hierarchischen
Organisation: Die Polizeiführung entscheidet, „die Polizisten“ führen aus. Am deutlichsten wird dies bei der Bereitschaftspolizei, deren ureigener Bereich nun mal das Begleiten und Absichern von Demonstrationen ist.
In der öffentlichen Diskussion bei Demonstrationen sollte wenigstens eine Dreiteilung vorgenommen werden: Die einzelnen Beamten, die Masse der Hundertschaften und die Polizeiführung.
Die „Street Cops“
Uniformierte Polizeibeamte auf der Straße gehören in der Regel der Schutzpolizei oder der Bereitschaftspolizei an - der Unterschied zwischen diesen zwei Organisationseinheiten ist in der Gesellschaft im Übrigen nicht jedem bekannt. Die dienstlichen Handlungsmöglichkeiten dieser Individuen sind im deutschen Rechtssystem größtenteils vorgegeben, vor allem in der Strafprozessordnung, den Gefahrenabwehrgesetzen (auf Länderebene oft Polizeigesetz oder Sicherheits- und Ordnungsgesetz genannt), sowie im Beamtenrecht.
Bezug nehmend auf Leipzig bedeutet dies: Wenn der Fahrer eines Polizei-Bullis den Demonstrierenden gegenüber den „Daumen hoch“ macht (das Video zur Szene wurde auf Twitter u.a.
von @shelly_pond geteilt), verstößt er damit vermutlich gegen seine Neutralitätspflicht. Diese hat er nicht im Privaten, aber im Dienst. Eine wahrnehmbare Zustimmung oder Ablehnung eines Demonstrationsthemas steht den Bereitschaftspolizist*innen nicht zu.
Auch die zwölf Beamten, die als viel zu kleine Polizeikette 500 teilweise Rechtsextremen gegenüberstanden (s.o. 16:15 Uhr) und, mutmaßlich aus Eigenschutz, den Weg auf den Leipziger Ring freigaben, müssen als handelnde Individuen betrachtet werden. Bei einem optimal verlaufenen Polizeieinsatz mit angepasster, vorausschauender Taktik hätten sie sich, genau wie die drei Polizisten von der Reichstagstreppe, nicht in einer solchen Situation befinden sollen.
Die Gesamtheit der Hundertschaften
In Leipzig waren über zwanzig Hundertschaften im Einsatz. Diese unpersönliche Masse an Beamten ist es, die regelmäßig nach „nicht-optimalen“ Einsätzen Rückendeckung von Innenministern und Polizeigewerkschaften erhält. Diese Rückendeckung ist oft berechtigt. So gibt es bei der Bereitschafts- wie bei der Schutzpolizei sicherlich einen Prozentsatz an Individuen, die rechtliche Vorgaben missachten oder in verfassungsfeindlichen Chatgruppen aktiv sind. Die
Mehrzahl der Polizist*innen in Deutschland (so die Hoffnung) macht aber gute Polizeiarbeit. Es ist richtig, diesen Personen den Rücken zu stärken, aber berechtigte Kritik an einzelnen Beamten oder der Polizeiführung wird zu oft als Kritik an der gesamten Organisation bewertet. Wenn dies sogar auf Ministerebene geschieht, muss man sich über eine mangelhafte Fehlerkultur bei den deutschen Polizeien nicht wundern.
Was auf Demonstrationen wie den Querdenken-Demos die individuellen Polizist*innen mit der unpersönlichen Masse
der Hundertschaften verbindet ist, dass sie die hierarchisch vorgegebene Polizeitaktik umsetzen müssen (so haben sie, verglichen mit der Schutzpolizei, beispielsweise ein herabgestuftes Remonstrationsrecht, was sich aus den Paragraphen „Handeln auf Anordnung“ aus den Gefahrenabwehrgesetzen ergibt [bspw. §61 SOG LSA]).
Die Polizeiführung und die Innenminister
Zugegeben- wie genau das da oben abläuft weiß ich nicht. Die 17 deutschen Innenminister sind keine erfahrenen Polizisten. Ob also am
29. August in Berlin Innensenator Geisel oder am 7. November in Leipzig Innenminister Wöller die Vorgaben gemacht haben, oder die Taktik vom Polizeiführer vorgegeben wurde, wer in den Situationen überhaupt verantwortlicher Polizeiführer war, weiß ich nicht. Es ist aber offensichtlich, dass bisher bei den Querdenken-Demos auf der Entscheidungsebene erhebliche Fehler gemacht wurden. Der bekannteste davon fand natürlich im August in Berlin statt, wo anstelle von zwei Hundertschaften und einer Wasserwerferstaffel nur drei Polizisten den Treppenstürmern den Weg verstellen mussten. Ob da nicht manch ein Polizeischüler vorausschauender taktiert hätte, als die mit der Erstellung der Einsatzplanung beauftragten Polizeiführer...
Gerade bei Lagen wie Demonstrationen zu Pandemiezeiten sollte der Führungsebene bis hin zum Innenminister besondere Aufmerksamkeit gelten. Hier sollte eigentlich eine Erfahrung und Besonnenheit vorhanden sein, um mit Kritik reflektierend umzugehen. Diese Kritik aber als Kritik an allen Polizist*innen umzumünzen, ist einfach nur kindisch.
Mehr Kritik wagen
Es geht in diesem Text nicht um rechte Netzwerke, Rassismusstudien, oder unabhängige Beschwerdestellen. Es geht um das staatliche Gewaltmonopol, das sich in einer Demokratie nicht der Kontrolle entziehen darf. Diese Kontrolle darf, entgegen den scheinbaren Vorstellungen des Bundesinnenministers, nicht nur durch Judikative, Legislative und Medien stattfinden. Es ist wichtig, das auch unbeteiligte Bürger*innen das Geschehen kommentieren und beurteilen, ebenso wie Betroffene
von polizeilichen Maßnahmen. Es empfiehlt sich, kritische Äußerungen an die korrekten Stellen zu richten. Der Daumen-hoch-Polizist vom vergangenen Samstag ist nicht für den Verlauf des Demonstrationsgeschehens verantwortlich, wie die Twitter-Userin, die das Video teilte, dazuschrieb. Hilfreich ist, den Organisationsaufbau der Polizei in Deutschland zumindest grob zu kennen, ebenso wie gesetzlich geregelte Rechte und Pflichten von Polizist*innen, sowie der Polizei gegenüber.
Vor allem aber ist Innere Sicherheit und staatliche Gewalt ein zu wichtiges Thema, um im öffentlichen politischen Diskurs auf einem so
niedrigen Niveau gehalten zu werden. Der in letzter Zeit häufig feststellbare Aufregungsreflex, „dass Polizisten ja den Kopf für
uns hinhalten, einen tollen Job machen, und man sie gefälligst nicht
kritisieren soll“ ist nicht zielführend. Vielmehr gilt es, Einsatzkritik wahrzunehmen und sie nicht als Kritik an der gesamten Polizei zu verstehen. Dies geschieht vermutlich bereits im Hinterzimmer, wobei ein bisschen Transparenz auch hier dem öffentlichen Vertrauen in die
Polizei eher nicht schaden würde.
Der Autor ist Angehöriger der Landespolizei Sachsen-Anhalt und Mitglied bei PolizeiGrün.